Jugendamt und „Verfassungsschutz“ vereint mit dem Aussteiger*innenprogramm für „Linksextremismus“ – wegen Teilnahme an Ende Gelände Aktion

Der Fall eines jungen Klimaaktivisten zeigt beispielhaft, wie der „Verfassungsschutz“ versucht, Menschen in dieses Programm zu zwängen. Das Legalteama für alle hat diesen Artikel geschrieben mit dem Anliegen, das öffentlich zu machen, um die repressive Methodik zu verdeutlichen und um weitere mögliche Betroffene vorzuwarnen.

(Der Artikel wurde zuerst veröffentlicht auf den Seiten von ANTIRRR .)

Die 2011 vom Bundesamt für „Verfassungsschutz“(1) eingerichtete Telefon-Hotline für ausstiegswillige „Linksextremisten“ hat schon für einige Witze herhalten müssen – es gab kaum ernst gemeinte Anrufe. Das ist auch logisch, geht ein „Ausstieg“ aus der sogenannten linken Szene zwar wohl oft mit einem schlechten Gewissen und möglicherweise auch mit enttäuschten Freund*innen einher, aber nicht mit systematischer Bedrohung, wie das Aussteiger*innen aus der rechten Szene ergeht. Trotz dieses Angebots ohne Markt läuft das Ausstiegsprogramm des Bundesamts jedoch weiter und das Land NRW startete im Jahr 2018 ein eigenes Landesprogramm mit dem schönen Namen „left“. Schnell wurden Erfolgsmeldungen aus dem Innenministerium Herbert Reuls geliefert – nach rund einem Jahr wurden 21 Ausstiegswillige vermeldet . Wie diese Zahl zustande kommen soll, konnten wir uns bisher nicht erklären. Ein Fall eines jungen Klimaaktivisten, der uns zugetragen wurde, zeigt nun beispielhaft, wie der „Verfassungsschutz“ versucht, Menschen in dieses Programm zu zwängen. Es ist uns ein Anliegen, das öffentlich zu machen, um die repressive Methodik zu verdeutlichen und um weitere mögliche Betroffene vorzuwarnen.

Was ist passiert?

Gehen wir also ein paar Monate zurück zu den Ende Gelände-Aktionen im Juni 2019: Tausende gehen in den Tagebau um die Bagger von RWE zu blockieren. Etliche der Teilnehmenden sind noch keine 18 Jahre alt. Sie gehen teils seit Monaten mit Fridays for Future für mehr Klimaschutz und Klimagerechtigkeit auf die Straße und gehen nun mit der Blockade von Baggern und Kohleschienen einen Schritt weiter, denn ihre Zukunft wird von RWE verheizt. Viele dieser Personen haben jetzt Strafverfahren gegen sich laufen, mit den Vorwürfen Hausfriedensbruch oder Widerstand. Bei einer dieser Personen – auch noch nicht formal erwachsen – wurde der „Verfassungsschutz“, noch vor der Zustellung einer Anklageschrift vom Gericht aktiv.

Während der Ende Gelände-Teilnehmer mehrere Monate im Ausland war, kam „Felix Medenbach“ vom „Verfassungsschutz“ in das Büro seines Vormundes (2) spaziert und erzählte vom „Aussteigerprogramm Linksextremismus“. Dem Jugendlichen wurde mitgeteilt, er müsse sich dringend dort melden, was dieser zunächst schriftlich tat, aber ein persönliches Gespräch wurde gewünscht. Als der Betroffene wieder in Deutschland war, meldete er sich dann auch und einige Zeit später kam es zu einem persönlichen Treffen in einem Restaurant zur Vorstellung des Aussteiger*innenprogramms „Linksextremismus“. Auf die Frage wie sie denn auf ihn gekommen seien, antwortet der „Verfassungsschützer“, er könne sehen wer wann und wo politisch motivierte Straftaten begehe und da, wo er die besten Chancen sieht, sie aus den „linksextremistischen Zügen“ zu befreien, kontaktiert er die Personen. Dieses erste Gespräch dauerte etwa 20 Minuten. Als Anmerkung sei erwähnt, dass es bisher kein Urteil zu der vorgeworfenen Straftat gibt, also hier der „Verfassungsschutz“ die Unterstellungen der Polizei übernimmt und als Tatsachenbehauptung aufstellt.

Ein weiteres Treffen fand mit zwei „Verfassungsschützern“ („Felix Medenbach“ und „Frederick Klausen“) im Büro eines Vereins (3) statt (nachdem der Betroffene Café, Polizeistation und eigenes Zuhause (es ist dreist, das überhaupt erst vorzuschlagen!)) abgelehnt hatte und das Jugendamt keinen Raum hatte. Die „Verfassungsschützer erzählten, dass die Termine anfänglich immer mit zwei Menschen vom „Verfassungsschutz“ stattfinden würden, später dann mit nur einem (falls einer etwas nicht mitbekommt, solle der andere es mitbekommen). Als erstes solle der Betroffene einen Lebenslauf erstellen, beginnend mit dem Zeitpunkt, an dem er begonnen habe zu denken, bis heute. Außerdem wollten sie von dem Jugendlichen eine Schweigepflichtsentbindung für Vormund, Betreuer*innen, das Jugendamt und gegebenenfalls die Schule – für die Jugendgerichtshilfe und das Gericht sei dies nicht nötig – was wohl bedeutet, mit dieser könne man auch ohne Entbindung von der Schweigepflicht über ihn reden. Darüber hinaus verlangten sie eine Willenserklärung, dass die Person keine Straftaten mehr begehen werde (4) und eine Verschwiegenheitserklärung über die Gespräche und das Programm.

Wer also mithilfe des „Verfassungsschutzes“ aus der sogenannten linken Szene aussteigen will, soll auf der einen Seite viele seiner Kontakte von der Schweigepflicht entbinden, aber auf der anderen Seite Stillschweigen über das Handeln des „Verfassungsschutzes“ bewahren. Damit auch ja keine*r kontrollieren kann, was der sogenannte „Verfassungsschutz“ tut.

Im Gegenzug zur umfassenden Offenlegung aller Gedanken seit dem Kindesalter versprachen die „Verfassungsschützer“ gegebenenfalls Anwaltskosten für Strafverfahren teilweise zu übernehmen, wohl um zusätzlich finanziellen Druck aufzubauen. Als weiterer Vorteil wurde dem Betroffenen bei Kooperation Strafmilderung in Aussicht gestellt. Darüber entscheide zwar der oder die Richter*in , aber es sei „sehr wahrscheinlich“. Dafür werde sich der „Verfassungsschützer“ auch bei der Jugendgerichtshilfe einsetzen. Außerdem wurde Unterstützung bei der Schul-, Wohnungs- und Ausbildungssuche in Aussicht gestellt. Hieran wird deutlich, dass Menschen, die weniger privilegiert sind, weil sie zum Beispiel nicht so viel Geld haben, oft härter von Repression betroffen sind und die Repressionsorgane damit einen Hebel haben, dies zusätzlich ausnutzen wie in diesem Beispiel. Der Betroffene unterschrieb am Ende nichts. Trotzdem redete der „Verfassungschützer“ mehrfach mit dem Vormund, dem Jugendamt und der Jugendgerichtshilfe über den Betroffenen. Bei der Betreuerin vom Verein scheiterte er glücklicherweise mit dem Versuch, diese hielt sich an ihre Schweigepflicht.

Das Jugendamt übt währenddessen Druck aus und nutzt speziell den Umstand aus, dass ihre Zustimmung zu einem gewünschten Schulbesuch nötig ist. Diesen stellte es bereits in Aussicht, wenn der Jugendliche andere Maßnahmen mitmachen würde – bisher kam die Bewilligung aber trotz Teilnahme nicht zustande. Jetzt sagt das Jugendamt wieder, dass die Teilnahme am Ausstiegsprogramm sinnvoll wäre und es dann wahrscheinlich im Sinne des Jugendlichen für den Schulbesuch entscheiden will. So wird vom Jugendamt der Wunsch, wieder zur Schule gehen zu dürfen gnadenlos ausgenutzt, um ihn zu überreden, Dinge zu tun, die er eigentlich gar nicht möchte.
Der Jugendliche sieht sich also einer Armada an druckausübenden Personen und Institutionen gegenüber, die versuchen, ihn in das Ausstiegsprogramm zu drängen. Sie machen sowohl einen Schulbesuch als auch finanzielle Unterstützung in einem Strafverfahren von seiner Kooperation abhängig. Hinzu kommt, dass die Jugendgerichtshilfe ihm gegenüber auch schon geäußert hat, dass sie Jugendarrest – also einen Freiheitsentzug! – vorschlagen werde. Da er schon länger ehrenamtlich tätig sei, wäre ihr alternativer Vorschlag Sozialstunden zu leisten, nicht sinnvoll (sic!). Insgesamt ergibt sich eine Ausnahme- und Zwangssituation für einen jungen Menschen, die ihresgleichen sucht.
Das steht in krassem Gegensatz zu jeglichen ethischen Grundsätzen an die sich sowohl Betreuer*innen als auch Jugendamt und Jugendgerichtshilfe gebunden sehen sollten, aber auch zu den angeblichen Voraussetzungen für eine Teilnahme am Aussteiger*innen-Programm. Laut Amt für „Verfassungsschutz“ in NRW sind dies „Freiwilligkeit und ein klar formulierter Ausstiegswille“ . Die Behörde scheint aber so verzweifelt Teilnehmer*innen für das Ausstiegsprogramm „Linksextremismus“ zu suchen, dass es beide selbst formulierten Voraussetzungen maximal kreativ auslegt. In der Beschreibung zum Programm findet sich auch ein Hinweis darauf, was es mit dem anzufertigenden Lebenslauf auf sich haben könnte: „Ein wesentliches Element der Ausstiegsarbeit ist die Aufarbeitung der extremistischen Vergangenheit und Ideologie. In persönlichen Gesprächen werden Einstiegsprozesse beleuchtet und undemokratische Denkmuster hinterfragt.“

Warum geht der „Verfassungsschutz“ so vor?

Zusätzlich zu den sehr fragwürdigen Methoden der „Anwerbung“ muss auch auf die Zielsetzung und Fokussierung des “Verfassungsschutzes“ selbst eingegangen werden. Ein zentraler Grundpfeiler der Arbeit der Behörden ist die Extremismustheorie. Obwohl diese in der Sozialwissenschaft heftig umstritten ist und weithin als unwissenschaftlich gilt , hat sie sich zumindest als politischer Kampfbegriff etabliert . Sie besagt, dass Links und Rechts an den „Rändern“ – im Extrem – gleich sind und sich damit von einer vernünftigen, demokratischen Mitte der Gesellschaft abheben und diese bedrohen. Militante rechte Gruppen, die beispielsweise Geflüchtetenwohnheime anzünden, werden gleichgesetzt mit Klimaaktivist*innen, die sich für Klimagerechtigkeit und gegen das ungerechte, kapitalistische Wirtschaftssystem einsetzen. Beiden Seiten würden im gleichen Maße die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ gefährden. Gerechtfertigt wird diese Gleichsetzung jeweils mit „Gewalt“ oder „Gewaltbereitschaft“, die an beiden Rändern ausgeübt werde. Die Formen, Ziele und Intensitäten dieser vermeintlichen Gewalt werden dabei häufig aus der Betrachtung rausgelassen oder in offiziellen Verlautbarungen nicht mit kommuniziert. Neben dieser unzulässigen Gleichsetzung, ist auch beobachtbar, dass dem linken Spektrum zugeordnete Gruppen deutlich stärker im Fokus der Behörden sind. Beipielsweise wurde im Verfassungsbericht 2015 Ende Gelände als extremistisch eingeschätzt, da es „verfassungsfeindliche“ Bestrebungen habe, während Pegida explizit als nicht verfassungsfeindlich eingestuft wurde und damit nicht überwacht werden müsse. Die systematische Verharmlosung rechter (Terror-)Gruppen wurde auch bei der erst kürzlich erfolgten Vorstellung des bayerischen Verfassungsbericht für 2019 deutlich: als „extremistisch“ aufgeführt wurden Ende Gelände, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN/BdA) und „linksextremistischer“ Hiphop. Was nicht aufgeführt wurde: die aufgeflogenen umstürzlerischen rechten Gruppen Südkreuz oder Nordkreuz, der paramilitärische Verein Uniter, sowie rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden. Diese verschobene Schwerpunktsetzung ist kein Zufall, erst recht kein reformierbarer Fehler im System. Die als rechtsradikal zu bewertenden öffentlichen Aussagen des letzten VS-Präsidenten Hans Georg Maaßen sind keine krassen Ausreißer, sondern passen in die objektive politische Einordnung der Behörden. Auch der aktuelle VS-Chef Thomas Haldenwang wollte im September 2019 lieber über den Hambacher Forst und die dortigen Aktivist*innen als über die rassistische Menschenjagd in Chemnitz im Sommer 2018 sprechen . Ganz zu schweigen von der jahrzehntelangen Förderung von, und Verstrickung in, militante rechte Strukturen und die aktive Verhinderung der Aufklärung rassistischer, rechtsterroristischer Morde von NSU bis Walter Lübcke – aber auch das ist ein Thema das eigene Bücher zu füllen vermag. Seit seiner Entstehung hat der “Verfassungsschutz”, der erfolgreich alte NS-Kader integrierte, rechte Schlagseite und versucht vor allem emanzipatorische Bestrebungen zu verfolgen und einzuschränken. Der hier beschriebene Fall ist ein weiteres eindrückliches Beispiel dafür, wie problematisch es ist, dem „Verfassungsschutz“ die Definition von falsch und richtig (aber um genau zu sein, auch schon davon, was eigentlich „verfassungsfeindliche Bestrebungen“ sein sollen) zu überlassen.

Deutlich wird vielerlei: Zum einen braucht es kein Ausstiegsprogramm für „Linksextremist*innen“. Wer keine linke Politik mehr machen will, sei es Klimapolitik oder etwas anderes und entsprechende Politgruppen oder Freund*innenkreise verlassen will, kann das einfach tun. Das passiert leider auch viel zu oft, aber verfolgt wird dafür niemand.
Auch inhaltlich gibt es sehr gute Gründe dafür, nicht mit dem „Verfassungsschutz“ zu kooperieren und jeglichen Anquatschversuch direkt zurückzuweisen. Ein Teil davon zeigt sich schon in der obigen Geschichte. Der „Verfassungsschutz“ möchte, dass nichts öffentlich wird, von dem was er tut, aber von ihm beim „Ausstieg“ Betreute sollen ihr ganzes Leben offen legen. Es gibt kein Gesetz, welches den „Verfassungsschutz“ ermächtigen würde, physische Gewalt auszuüben oder das für Nichtkooperation Strafen vorsehen würde. Trotzdem kann natürlich die Ansprache, Überwachung und das Wissen darum enorm beeinträchtigend wirken – es ist eine Form der Repression, die der Staat einsetzt, um Protest oder Widerstand zu unterdrücken. Hier gilt genauso wie gegenüber der Polizei oder anderen Behörden, dass es das beste ist, keine Aussagen zu machen und sich möglichst gar nicht erst auf Gespräche einzulassen.
Alle Informationen, die beim „Verfassungsschutz“ landen, nutzt dieser für das weitere Ausspionieren von politischen Strukturen und Zusammenhängen. Bei der Auswahl versucht er zudem gezielt Menschen, die im kapitalistische System sowieso schon schlechter gestellt sind, weil sie nicht so viel Geld zur Verfügung haben, anzuwerben und die finanzielle Repression als Druckmittel zu benutzen. Während Menschen die selbst oder deren Familien viel Geld haben, sich von einem Teil von Repression einfach „freikaufen“ können, bedeuten hohe Anwält*innenkosten und Geldstrafen für viele Menschen finanzielle Notlagen oder sogar Haftaufenthalte .
Der „Verfassungsschutz“ steht also gerade nicht auf der Seite von mehr Freiheit, von Demokratie oder Klimagerechtigkeit, sondern auf der Seite eines repressiven und kapitalistischen Staates und von Konzernen wie RWE, die durch sein Handeln geschützt werden sollen. Mit Inlandsgeheimdiensten, die Einzelne zu Staatsfeind*innen erklären, wird es keine andere, gerechtere Welt geben.

Der Text wurde erstellt vom Legal Team für Alle, welches die Ende Gelände Aktion in der Nachbereitung betreut.

Anmerkungen:

(1) Wir haben uns entschieden, den Namen des Inlandsgeheimdienstes konsequent in Anführungszeichen zu schreiben, da wir darauf hinweisen wollen, dass die tatsächliche Tätigkeit dieses Inlandsgeheimdienstes nicht das Geringste mit dem Schutz des Grundgesetzes zu tun hat. Gleiches gilt für das Wort „Linksextremismus“, den wir als politischen Kampfbegriff verstehen und die dahinterliegende Extremismustheorie ablehnen.

(2) Ein Vormund ist der*die gesetzliche Vertreter*in eines Menschen unter 18 Jahren, der die Eltern rechtlich ersetzt.

(3) Eine Betreuerin aus diesem Verein unterstützt den Jugendlichen, beispielsweise bei der Anmietung einer Wohnung und seiner finanziellen Versorgung durch den Verein.

(4) Auch hier sei nochmals angemerkt, dass der Betroffene bisher nicht für eine Straftat verurteilt wurde.


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